Den 21-jährigen Jungen beschützen?

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Girl-Soccer
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Registriert: 11. Januar 2008 21:46

Den 21-jährigen Jungen beschützen?

Beitrag von Girl-Soccer »

Hallo!!

Ja, ich schreibe hier auch mal wieder.
Doch es geht nicht direkt um mich.

Es geht um meinen 21-jährigen Bruder.
Früher dachte ich immer, er sei in der Hinsicht auf die Scheidung unserer Eltern und den Umgang mit unserem Vater der Stärkere,
doch so langsam denke ich, habe ich mich da geirrt.
Mein Bruder ist ein hochintelligenter Student im nahen Ausland, der immer so ziemlich alles erreicht, was er möchte,
oder wohl meist viel mehr, was er denkt, die Gesellschaft von ihm sehen will.
Er ist Perfektionist. Solche Menschen sind sowieso nie einfach, wie man weiß.
Er machte sein unglaublich gutes Abi so unglaublich gut, weil er nach der Anerkennung unserer Eltern gelechzt hat,
das hat mir mal ein gemeinsamer Freund erzählt. Liegt auch nahe, ich spüre selber nur sehr wenig echte Anerkennung,
doch ich weiß, dass unsere Eltern das eben nicht so können und man das anders machen muss (oder zumindest sollte...).

Jedenfalls bringen ihn seine Studiengebüren, für die sich niemand verantwortlich fühlt, die (nennen wir es mal) Unfähigkeit
seiner Familie und sein Perfektionismus in meinen Augen in ein Trauerspiel.

Denn ich, im Gegensatz zu ihm, habe gelernt, dass man in dieser Familie nehmen muss, was man kriegen kann,
egal, wie ungerecht oder unmöglich (im Sinne von "das Geld ist dafür eigentlich gar nicht da") es erscheint.
Ich habe, im Gegensatz zu ihm, gelernt, dass mein Glück an vorderster Stelle steht, da ich dafür mit Abstand am meisten tun kann.
Ich habe gelernt, dass man in dieser Welt (bzw. in dieser Familie) nicht alles einfach mit einem guten Willen und großem Ehrgeiz retten kann, sondern manche Dinge auch einfach mal hinnehmen muss.
Und manche Dinge muss man eben auch mal aus seinem Leben ausschließen, weil sie einem nicht gut tun.

Mein Bruder denkt immer noch, er könne die Welt retten, damit diese danach ihn rettet.
Ich weiß, dass ich die Welt erst retten kann, wenn ich gerettet bin.
Hätte man uns beide dies vor fünf Jahren gefragt, sähen die Antworten konträr aus.
(Er sagte gerne: "Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt!")

Ich weiß nicht, ob so wirklich klar wird, auf was ich hinaus will.

Jedenfalls ist mein Bruder derjenige, der meine Ma aus dem Ausland fast jeden Abend anruft,
um sich bei ihr auszuheulen, dass doch alles so doof ist und er was besseres will.
Und dann kommt meine Mutter mit dem ganzen Negativ-Mist über meinen Vater und unsere finanzielle Situation.
Ich sag euch, die beiden können stundenlang quatschen.

Als ich im Ausland war, war es meine Mutter, die mich ab und zu angerufen hat, um mal was von mir zu hören
und sobald sie mit irgendwas negativem über's Finanzielle oder meinen Vater angefangen hat,
habe ich ihr gesagt, sie soll's bleiben lassen.
Zudem habe ich mich mit so ziemlich jeder befremdlichen Situation abgefunden und das beste daraus gemacht.

Kürzlich hat meine Ma ihm eine Mail für eine Bekannte vordiktiert.

Wie alt ist der Junge?

Der Junge ist unglücklich, das ist keine Frage. Auch wenn er ganz sicher "Glück" hochpsychologisch erklären kann.
Zieht er in einer Wohnung und die entspricht nicht genau seinen Vorstellungen, ist er unglücklich,
schreibt er eine Note, die nicht genau seinen Vorstellungen entspricht, ist er unglücklich,
entspricht er sich selbst in einer Beziehung nicht genau seiner Vorstellung, beendet er diese, (er ist Mädchenschwarm und Dauersingle)
findet er in der Küche seiner neuen WG Motten, sucht er sofort die perfekte Lösung um sie auszurotten,
ekelt sich aber nebenbei furchtbar davor und will eigentlich sofort wieder ausziehen, zieht es dann aber trotzdem durch,
ist aber dabei mal wieder unglücklich.
Bietet unser Vater uns beiden ein tolles Weihnachtsgeschenk an, nehme ich dankend an, während er mal wieder ein Entscheidungsproblem hat und sich endgültig dagegen entscheidet, weil er sieht, dass das Geld dafür nicht da ist oder besser
investiert werden kann und lehnt ab. Am Ende bin ich (seiner Meinung nach) der Depp und er der Unglückliche.

Ich mache mir Sorgen, sonst wäre ich (immer noch krank) um diese Uhrzeit nicht mehr am Computer.

Jetzt meine Frage:
Was meint ihr, soll ich meiner Mutter einreden, sie soll ihn vor dem ganzen Negativ-Mist schützen und nicht darüber reden,
egal wie sachlich und zielgerichtet er damit umzugehen scheint?
Soll ich meiner Mutter sagen, sie soll ihren Sohn zu mehr Selbstständigkeit erziehen, ihm einheizen, erwachsen zu werden,
ihm vielleicht auch dazu Anleitung geben?
(Ich habe kurz überlegt, ob ich das in unsere neue Rubrik "Erziehung" reinsetze, aber das kam mir dann doch albern vor...)

Ich selbst habe nur sehr wenig Einfluss, ich müsste das alles über meine Mutter laufen lassen, was mir auch nicht gefällt,
da sie nämlich selbst genauso eine Niete in Sachen Selbstverwirklichung und Glücklichsein ist, was mir auch fast das Herz zerbricht....
Aber mal abgesehen davon,
was denkt ihr, wäre für einen so großen Jungen nun das Beste?

Ich hab ihn lieb, er ist der beste große Bruder, den man sich wünschen kann.

Liebe Grüße von Girl-Soccer, die jetzt schlafen geht.
SoulOnFire
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Registriert: 9. November 2010 21:23

Re: Den 21-jährigen Jungen beschützen?

Beitrag von SoulOnFire »

Hi.

Es ist schön, dass du schreibst was dich beschäftigt. :)

Ich kenne deine Geschichte so ähnlich, aus der Sicht des jungen Mannes, der in allem versucht Perfekt zu sein und hofft dann endlich Raum zu bekommen. Mit 21 fing ich ganz langsam an zu erkennen... Heute mit 23 habe ich erst selbst wirklich den Willen etwas daran zu ändern.

Das erste was mir aufgefallen ist: Du nimmst dich ganz schön in die Verantwortung. Ja, ich kann es verstehen. Es ist dein Bruder, deine Familie. Ich sehe, dass dich die Sache aufwühlt und dich an Schmerzen erinnert, die du selbst erfahren hast. Es beeindruckt mich, wie viel Mitgefühl du trotzdem für deinen Bruder empfindest. Ich kann verstehen, dass du ihn schützen willst, weil du siehst was schief läufst. Ich kann auch verstehen, wie sehr es dich verunsichert, wenn dir die Hände gefesselt scheinen. Du bist unschuldig.

Zwei Gedanken möchte ich dir gerne mitteilen.

1. Du bist nicht verantwortlich für das was du an deinem Bruder siehst. Mir tat es (als Bruder) gut zu sehen, dass meine Schwester für sich sorgt. Das hat mir Sicherheit gegeben. Es hat mir Sicherheit gegeben, dass sie nicht versucht hat etwas zu ändern als ich es nicht von mir aus wollte. Es macht mir noch heute Hoffnung, wenn ich sehe, dass sie sich eine neue Familie aufgebaut hat. Es war überwältigend, als ich Monate später selbst auf sie zu ging und sie dann da war, mich gesehen hat und mir zeigte wie sie sich fühlt... Wie gut sie meinen Schmerz und meine Enttäuschung verstehen kann ohne dass ich erklären muss, ohne dass ich etwas “besser“ und perfekter machen muss. Ohne dass sie besänftigt hat. Einfach sehen, annehmen, da sein. Ganz entspannt niemand muss, jeder darf. Ich konnte auch immer verstehen, wenn sie gerade selbst bedrückt war. Auch wenn ich es nicht so offen sagen konnte.


2. Ich bekomme Angst und Stress, wenn ich lese, dass du deine Mutter überreden musst und ihr helfen musst. In dieser Beziehung bist du das Kind. Es ist nicht deine Aufgabe das alles zu regeln. Aber ich sehe, wie wichtig es dir ist, dass es gut läuft. wie viel Mitgefühl du hast, wie gut du siehst, was mit deinem Bruder geschieht und wie viel Mühe es dir bereitet. Und wie sehr es dich verärgert und wie es dein Herz zerbricht, wenn du siehst dass du als Kind besser bescheid weißt als deine Mutter, die du grade als zerbrechlich erlebst. Es tut wahrscheinlich weh das zu sehen und ich wünsche dir die Kraft, dir diesen Schmerz zu erlauben. Ich kenne nur einen ganz kleinen Teil deiner Geschichte und ich erahne nur ein bischen, wie viel Druck sich da für dich auftut. Eigentlich brauchst du jetzt jemanden, der freundlich, selbstbewusst und einfühlsam deine Wunde sieht, bei dem du weinen kannst und der dich dann fest hält. So lange wie du möchtest. Egal wann, egal wie oft.
Und ich glaube, du brauchst einen vertrauensvollen Vater, der dir versichert, dass er gut mit Mama umgehen kann. Besonders wenn Mama grade schwach ist. Dass er weiß wie es weiter geht. und dass er auch ganz toll mit traurigen Jungen umgehen kann. Du kannst jetzt spielen gehen. Oder dich auch in den Arm nehmen lassen. Wie du es gerade brauchst und möchtest.

Ich wünsche dir viel Ruhe und Vertrauen darein, dass dein Bruder tief im Inneren viele Gefühle mit dir teilt und vielleicht jetzt noch nicht so weit ist, die Augen wirklich zu öffnen. Ich kann verstehen, dass es dir weh tut und ich mag es wenn du mir erlaubst hier etwas über dich zu lesen.
Die Geschwisterliebe ist etwas sehr besonders. Es ist in der Regel die längste Liebe im Leben.
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