Liebe

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Peterchen
Mittagspausentipper
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Registriert: 25. Januar 2012 10:19

Liebe

Beitrag von Peterchen »

Wenn die Liebe Dir winkt, folge ihr.
Sind auch ihre Wege schwer und steil.
Und wenn ihre Flügel Dich umhüllen, gib Dich ihr hin,
Auch wenn das untern Gefieder versteckte Schwert dich verwunden kann.
Und wenn sie zu Dir spricht, gleube an sie,
Auch wenn ihre Stimme Deine Träume zerschmettern kann wie der Nordwind den Garten verwüstet.
Denn so, wie die Liebe Dich krönt, kreuzigt sie Dich.
So wie sie Dich wachsen lässt, beschneidet sie Dich.
So wie sie emporsteigt zu Deinen Höhen und die zartesten Zweige liebkost, die in der Sonne zittern,
Steigt sie hinab zu Deinen Wurzeln und erschüttert sie in ihrer Erdgebundenheit.
Wie die Korngaben sammelt sie Dich um sich.
Sie drischt Dich, um Dich nackt zu machen.
Sie siebt Dich, um Dich von Deiner Spreu zu befreien.
Sie mahlt Dich, bis Du weiß bist.
Sie knetet Dich, bis Du geschmeidig bist;
Und dann weiht sie Dich in ihrem heiligen Feuer, damit Du Brot wirst für Gottes heiliges Mahl.
All dies wird die Liebe mit Dir machen, damit Du die Geheimnisse Deines Herzens kennenlernst und in diesem Wissen ein teil vom Herzen des Lebens wirst.
Aber wenn Du in Deiner Angst nur die Ruhe und die Lust der Liebe suchst,
Dann ist es besser für Dich, Deine Nacktheit zu bedecken und vom Dreschboden der Liebe zu gehen.
In die Welt ohne Jahreszeiten, wo Du lachen wirst,
aber nicht Dein ganzes Lachen, und weinen, aber nicht all Deine Tränen.
Liebe gibt nichts als sich selbst und nimmt nichts als von sich selbst.
Liebe besitzt nicht, noch lässt sie sich besitzen;
Denn die Liebe genügt der Liebe.
Wenn Du liebst, sollst Du nicht sagen: "Gott ist in meinem Herzen", sondern: "Ich bin in Gottes Herzen".
Und glaub nicht, Du kannst den Lauf der Liebe lenken, denn die Liebe, wenn sie Dich für würdig hält, lenkt Deinen Lauf.
Liebe hat keinen andern Wunsch, als sich zu erfüllen.
Aber wenn Du liebst und Wünsche haben musst, sollst Du Dir dies wünschen:
Zu schmelzen und wie ein plätschernder Bach zu sein, der seine Melodie der Nacht singt.
Den Schmerz allzuvieler Zärtlichkeiten zu kennen.
Vom eigenen Verstehen der Liebe verwundet zu sein;
Um willig und freudig zu bluten.
Bei der Morgenröte mit beflügeltem Herzen zu erwachen und für einen weitern Tag des Liebens dankzusagen;
Zur Mittagszeit zu ruhen und über die Verzückung der Liebe nachzusinnen;
Am Abend mit Dankbarkeit heimzukehren;
Und dann einzuschlafen mit einem Gebt für den Geliebten im Herzen und einem Lobgesang auf den Lippen.

(Khalil Gibran)
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